Drei Gutachten zum Stralsunder Bücherverkauf

Im Internetauftritt der Hansestadt Stralsund ist eine „Chronologie der Ereignisse“ des Verkaufs der Stralsunder Gymnasialbibliothek aus den Beständen des Stadtarchivs zu finden – geschrieben aus
Sicht der Hansestadt Stralsund. Mit diesem Beitrag sind drei Gutachten verlinkt, die in allerjüngster Zeit ganz schnell zu diesem Thema vorgelegt wurden (manchmal wundert man sich, wie schnell das geht, während man
in anderen Fällen Monate, wenn nicht gar Jahre für die Erstellung eines gediegenen Gutachtens ansetzt…). Die Qualität zumindest des einen Gutachtens, das den Kopf der Archivleiterin kostete, ist allerdings
zumindest zweifelhaft.
Zwei der Gutachten beleuchten die katastrophale Art der Unterbringung der – nennen wir sie als Ganzes einmal – Archivbibliothek von über 120.000 Bänden mit ihren Abteilungen, Schenkungen und Teilbibliotheken.
Unter diesem Stichwort ist eine Beschreibung der Büchersammlung auch im „Handbuch der historischen Buchbestände“ zu finden.
Diese beiden Gutachten handeln vom Schimmel, der die gesamte Bibliothek befallen hat. Sie geben als Empfehlungen eine Behandlung der am schlimmsten befallenen Bücher mit Gammastrahlen, eine mechanische
Reinigung des gesamten Bestandes und, vor allem, eine Verlagerung mit anschließender dauerhafter Unterbringung in geeigneten Räumlichkeiten.
Dies ist die eine Facette des jetzt zu Tage getretenen „Skandals“ um den Verkauf der Stralsunder Bücher. Es reicht nicht, einen historisch bedeutsamen Buchbestand zu haben, man muss auch
dafür sorgen, indem man ihn so unterbringt, dass die 400 Jahre der bisherigen Aufbewahrung nicht für die Katz waren, und auch die kommenden Generationen noch immer etwas von der mit jedem vergangenen Tag
wertvoller gewordenen Bibliothek haben. In dieser Hinsicht sind die Hansestadt Stralsund und, da dort die Kulturhoheit in unserer Republik liegt, das Land Mecklenburg-Vorpommern in der Pflicht, ein geeignetes Umfeld herzustellen,
das den Bestand auf Dauer garantiert.
Die zweite Facette ist der Streit um die Möglichkeit, Bestandteile eines Archivs zu Geld zu machen. Der vorherige Leiter des Stadtarchivs, Hans-Joachim Hacker, betont in einem NDR-Interview, dass die „wertvollen“ Bücher aus der Gymnasialbibliothek nicht verkauft worden, sondern noch in den Regalen der Archivbibliothek zu finden seien. Die verkauften Bestände seien entweder Häufigkeitstitel
oder im Gesamtbestand nochmals vorhanden. Insofern stelle der Verkauf keinen „kulturellen Verlust“ dar.
Zu einem ganz anderen Ergebnis kommt das Gutachten der Professores Palmer (Oxford) und Wolf (Marburg). Leider ist nur der „Vorläufige Bericht“ vom 19. November 2012 zugänglich; das ausführliche
Gutachten lesen zu können, wäre sicherlich ein Gewinn. Palmer und Wolf betonen zum einen den kulturhistorischen Wert des Bibliotheksensembles, da es, vor allem für die pädagogische Forschung im weitesten
Sinne, eine Quelle darstelle, aus der man viel für die Geschichte der Bildung, die Schwerpunktsetzungen gymnasialer Bildung von der Frühen Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert ablesen könne. Zum anderen seien die
Bücher mit der Geschichte der Hansestadt Stralsund „vernetzt“, welch selbiges Modewort die beiden sich nicht entbrechen, gleich mehrfach zu verwenden. Gemeint ist, dass sowohl Marginalien, Beilagen, Stempel und Eigentumsnachweise
vielfältig von den ehemaligen sundischen Eigentümern der Bücher berichten, ihre Einschätzungen zum Inhalt der Bücher dokumentieren und Provenienzen darstellen.
Allerdings versteigt sich das Gutachten der beiden Herren auch in Gefilde, in denen sie als staatsalimentierte Bibliophile nur wildern können: Sie versuchen, einen Handelswert der Bibliothek zu
bestimmen. Sie legen der Wertbestimmung zum einen die nicht verkauften Bücher zugrunde, also diejenigen Titel, die noch im Regal des Archivs stehen und nicht verkauft worden sind (immer vorausgesetzt, dass dem auch so
ist…), und rechnen deren „Wert“ für die gesamte Bibliothek hoch. Zum anderen nehmen sie die Preise der „Rosinen“ des verkauften Bestandes, soweit sie im Internet genannt sind, multiplizieren sie mit 6000 und
kommen zu einem Wert, der alles um Längen schlägt, was je ein Antiquar oder Auktionshaus am Verkauf einer Bibliothek verdient hat.
Zu dieser Einschätzung sind mehrere Dinge zu sagen: Das Ensemble mit seinen Schwerpunktsetzungen ist im zweibändigen Katalog der Gymnasialbibliothek gut nachzuvollziehen. Der tatsächliche Bestand
entspricht nach Inaugenscheinnahme durchaus der Erfassung im Katalog, selbst wenn das „Handbuch der historischen Buchbestände“ den Katalog als nicht vollständig bezeichnet – die Kriterien des „Handbuchs“
für „Vollständigkeit“ liegen nicht offen. Insofern ist allein durch die Existenz des Kataloges (dass er nicht mit den Büchern zusammen verkauft wurde, setze ich voraus) ausreichend als Quelle für die
erziehungsgeschichtliche Forschung – erzähle mir niemand, dass sich forschende Menschen vor die Regale stellten und daraus ihr wissenschaftliches Fundament für Thesen zur Bildungsgeschichte zögen. Sie werden
allemal und fast ausschließlich mit dem Katalog arbeiten!
Das eigentlich gewichtige Argument des Gutachtens für den kulturhistorischen Wert der Sammlung ist das, was über das Gedruckte in den Büchern hinausgeht, also das, was die Bücher personalisiert
oder individualisiert. In dieser Hinsicht ist natürlich der Verkauf das absolute und definitive Ende der Möglichkeit systematischer Forschung. Die an sich nicht seltenen einzelnen Bücher wurden mit dem „Handschriftlichen“
zusammen verkauft, und dieses ist tatsächlich unwiederbringlich. Selbst wenn man die Bücher an einen der antiquarischen Sorgfalt verpflichteten Antiquar verkauft hätte, der nicht nur bei ebay die Existenz von
Marginalien verkündigt, sondern in einem sorgsam erstellten Katalog die wesentlichen handschriftlichen Einträge vielleicht sogar durch eine Abbildung illuminiert aufgeführt hätte, geben auch die sorgfältigsten
und ausführlichsten Einträge in Verkaufs- bzw. Auktionskatalogen das singuläre Buch nicht unmittelbar und in Gänze wieder; neue wissenschaftliche Fragen könnten durch die Beschreibungen nicht beantwortet
werden, da sie nicht zum Fragehorizont der Beschreibenden gehört haben. In dieser Hinsicht ist dem Gutachten voll zuzustimmen: der Verlust durch den Verkauf ist absolut.
Dann aber machen die Herren aus dem Elfenbeinturm Aussagen zu Dingen, von denen sie offensichtlich keine Ahnung haben, die aber zur Suspendierung der Archivleiterin führten, also existentielle Auswirkungen
nach sich zogen. Ich unterstelle den Herren, dass ihnen dies nicht bewusst war; andernfalls müsste man sie zur Verantwortung ziehen. Inwiefern schuldhaftes Verhalten der Archivleiterin vorliegt, die Beantwortung der Frage,
ob sie nicht ein „Bauernopfer“ anstelle der eigentlich Verantwortlichen war, die Klärung des Verdachts, dass der Verkauf der Bibliothek nur anderes kaschieren wollte, die Frage, ob ein Archiv, anders als eine Bibliothek,
(Teil-)Bestände überhaupt verkaufen darf, statt sie nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist zu vernichten: all‘ dies liegt nicht in der Erklärungsmacht der Herren Professores, wird aber dazu benutzt.
Die systematischen Fehler bei der Beurteilung des Handelswertes liegen auf der Hand: Wenn sie die nicht verkauften Bücher für eine Wertbestimmung zugrunde legen, müssen sie sich vorher fragen,
ob die nicht verkauften Bücher repräsentativ für den übrigen Bestand sind. Diese Frage haben sich die Herren Wissenschaftler offenbar nicht gestellt. Wenn es stimmt – und bisher liegt mir keine Aussage
vor, die dagegen spräche -, dass die nach welchem Maßstab auch immer wertvollen Bücher vorher in andere Bereiche der Bibliothek umgestellt und daher nicht mit verkauft wurden, verbietet es sich von selbst,
den „Wert“ der nicht verkauften Bücher für den verkauften Teil hochzurechnen.
Erster Fehler.
Zweiter Fehler: Offensichtlich haben die beiden Elfenbeintürmer keine Ahnung vom Verkauf antiquarischer Bücher. Egal, wie gut oder schlecht der bayerische Kollege finanziell ausgestattet ist –
zunächst muss er über den Verkauf der „Rosinen“ den Ankauf der Bibliothek refinanzieren. Dies geht nun mal definitiv nicht mit dem Verkauf der „Jahresgabe des Hamburgischen Vereins für Geschichte“, selbst
wenn es davon 130 Jahrgangsbände geben sollte – nein, die Refinanzierung gelingt nur mit den Einzelstücken, die einen einigermaßen hohen Verkaufspreis erzielen können. Diese kommen zuerst und fast ausschließlich
zum Verkauf. Danach kann man sich (im Erfolgsfalle) entspannt zurücklehnen und den Rest nach und nach anbieten. Die Preise für die „Rosinen“, die zunächst einmal das gewaltige Etatloch stopfen sollen, das
durch den Gesamtankauf aufgerissen wurde, auf den gesamten Bestand hochzurechnen, ist entweder unredlich oder zeugt von gnadenloser Ahnungslosigkeit, was das antiquarische Geschäft angeht.
Insofern hat, zumindest dem Vorabergebnis zufolge, das Gutachten der Herren Professores Palmer und Wolf in einem einzigen Punkt Bestand, dem des Verlustes von Individualisierung und Personalisierung der Druckerzeugnisse.
Selbst wenn dieselben Titel in anderen Exemplaren in derselben Bibliothek noch vorhanden sein sollten oder sie überall einsehbare Massentitel sind, so sind die über den Druck hinausgehenden handschriftlichen Einträge
durch den Verkauf verloren.
Alle anderen Punkte des Gutachtens (von der Ensemblegestalt der Bibliothek bis zum angeblichen Handelswert in Millionenhöhe) sind barer Unsinn und desavouieren die Herren Palmer und Wolf als unreflektierte
Gefälligkeitsschreiber. Die systematischen Lücken sind so auf der Hand liegend, dass es vermutlich, im Gegensatz zum oben Gesagten, unerquicklich wäre, das Gutachten in voller Länge lesen zu müssen.
Ich würde dem Gutachten unter Berücksichtigung der oben genannten Selbstverständlichkeit bestenfalls ein „rite“ zubilligen.
Zudem fehlt nach wie vor die Einschätzung, ob es den Büchern nicht jetzt, wo sie der feuchtkalten Hölle des Klosters entkommen sind, weitaus besser geht als noch vor einem halben Jahr. In den
Klöstern starben die Mönche mit 35 an Rheuma, die Bücher sterben am selben Ort am Schimmel. Es besteht die Gefahr, dass sich die Aufregung der Bibliothekare, Archivare und Gutachter über den Verkauf eines
Teilbestandes in absehbarer Zeit von selbst verschimmelnd abkühlt, wenn nicht für eine bessere Unterbringung der Gesamtbibliothek gesorgt wird.
Dazu schaue man sich die beiden technischen Gutachten an, die die Bezeichnung „Gutachten“ tatsächlich verdienen…
Meine Handlungsempfehlung: Offenlegung, welche Bücher tatsächlich verkauft wurden; denn dann kann man sich über den Handelswert unterhalten – vorher nicht und auf gar keinen Fall! Fachgerechte
Lagerung der Bücher, damit der vielbeschriene kulturhistorische Wert der Bibliothek auch erhalten bleibt und sich nicht biologisch-chemisch von selbst erledigt! Nutzen Sie, liebe Vertreter der Hansestadt Stralsund, den
Zuspruch, den Sie von sich echauffierenden Bibliothekaren und Archivaren gerade erfahren, um ein Forschungsprojekt in Gang zu setzen, das den noch nicht verkauften Buchbestand auf seinen regionalhistorischen Wert untersucht!
Alle diejenigen, die jetzt Zeter & Mordio schreien, sollten ihren echten und brauchbaren Beitrag jetzt und sofort leisten – ehe die Bücher im besten Falle sämtlich verkauft, im schlimmsten Falle sämtlich
verschimmelt sind!
Dr. Ulrich Rose
Greifswald
Anmerkung: Alle Berufs- und Funktionsbezeichnungen wie Vertreter, Antiquar, Gutachter, Professor usw. beziehen sich, sofern nicht konkrete Personen gemeint sind, auf beide Geschlechter.
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